Distanz und Nähe
Anja Meyer
VRP und Mitinhaberin
Abwechslung, Inspiration und Erlebnisse haben wir auch in der Weite des Raumes gesucht und gefunden. Am Wochenende in den Bergen, bei einer Städtereise, im Urlaub weltweit.
Auch für das tägliche Leben sind wir weit hin und her gefahren: in die Schulen und Shopping-Malls, in die Büros und für Services aller Art.
Wir sind uns so nah, so fern. Pandemie, Digitalisierung, Ökologie.
Nun wird der Raum enger, nicht nur wegen Corona. Ebenso werden ökologische Gründe die Mobilität zunehmend einschränken, oder zumindest Häufigkeit und Radien unserer Touren reduzieren. Gleiche Effekte ergeben sich in Zusammenhang mit Homeoffice und Online-Sitzungen. Was wir draussen in der Weite, gesucht und gefunden haben, müssen wir nun vor Ort in der Nachbarschaft und im Quartier erleben können, und in den eigenen vier Wänden.
Die Ferne vor Ort erleben. Und trotz neuer Nähe auf Distanz bleiben.
Wie können wir eine neue Nähe und manchmal auch Enge leben? Und wie können wir dabei Distanz wahren und Privatheit sicherstellen? Diesen Themen muss sich die Immobilienbranche stellen. Und nicht nur sie. Gefordert sind auch die Raumplanerinnen, Architekten und Behörden.
Schrebergarten und Rumpelkammer auf dem Balkon. Raumangebot und Bedürfnisse klaffen auseinander.
Was also macht eine Lage und eine Immobilie attraktiv, wenn wir jetzt öfter in der Nähe bleiben, also zuhause im Quartier und in der Wohnung leben und arbeiten, uns erholen und vergnügen wollen?
- Naturerlebnisse: Kleingärten, Brunnen, Teiche, Lauben, Ruhezone
- Erlebnisparks: Kinderspielplatz, Klettern, Tiergehege, Skaterpark
- Städtebau: Winkel, Gassen, Plätze, begrünte und bespielbare Quartierstrassen
- Infrastruktur: Einkauf für täglichen Bedarf, Depot für Lieferungen, Anbindung an ÖV, Entsorgung, Services wie Kitas, Schulen, Hausdienste, Gesundheitsdienste
- Treffpunkte: Office Out of Home, Gastronomie, Cafés, Arena für Events, Grillstelle, Gemeinschaftsräume für Angebote von Privaten für Private, Bänke
Das alles ist nicht neu, und auch nicht für jede Überbauung realisierbar. Dennoch sollten wir ganz grundsätzlich etwas hartnäckiger, inspirierter und innovativer in diese Richtung denken, planen und bauen. Beste Voraussetzungen dafür bieten Innenstädte mit Geschäftshäusern und Ladenlokale, die zunehmend verwaisen. Kann ja sein, dass die Stadt der Zukunft keine neu erbaute ist, sondern eine alte neu genutzte.
Die neue Sachlichkeit ist in die Jahre gekommen. Es gibt jetzt diese Sehnsucht nach ornamentalen Gefühlswelten.
Nähe leben, Distanz wahren: Mehr Spielraum haben Investoren, Architekten und Immobilienunternehmen bei der Entwicklung und Ausgestaltung von Gebäuden. Doch einfach nur grössere Wohnungen bauen reicht nicht aus. Der verfügbare und für Eigentümer wie auch Mieter finanzierbare Raum muss klug, praktisch und flexibel organsiert sein.
- Paradebeispiel dafür ist das Dreiraumwohnen. Zwei Personen schätzen in ihrer je persönlichen Wohn-Schlaf-Bad-Einheit die Privatheit. Das gemeinsame Leben und den Kontakt mit ihren Gästen pflegen sie im dritten Raum mit Küche und Wohnraum.
- Aus Erfahrung in der Vermarktung wissen wir, dass die deutliche Unterteilung in «öffentliche» und «private» Räume sehr geschätzt wird.
- Weil man öfter zuhause ist, steigt der Wunsch nach multifunktionaler Nutzung eines Raumes: Wickeltisch, Home-Office, Basteleck, Gästebett, Yogaraum und Spielzimmer in einem – kommt die Schiebetür zurück?
- Gerade diese vielfältige Nutzung erfordert viel Stauraum, evtl. auch ausser Haus: Schränke also auch im Keller oder wo möglich in den Treppenhäusern, fest eingebaut für Schuhe und als Garderobe, Boxen für Sport- und Freizeitgeräte in Einsteinhallen, oder Container auf vormaligen Parkplätzen?
- Halbprivate Aussenräume ermöglichen nachbarschaftliche Nähe auf Distanz. Ein Beispiel dafür können Fahrradräume mit integriertem Werkraum für kleine Reparaturen und Reinigung sein.
- Schon Klassiker sind Treffpunkte mit Boxen für Paket- und andere Lieferservices. Ein Internet-Café mit Waschgelegenheit, Hundedusche mit Kaffeeautomat und Feuerstelle.
Alles nah, aber nicht immer alles da. Auch Stauraum können wir neu denken.
Bei aller Nähe, wollen wir uns doch nicht zu nahekommen. Folgende Elemente verschaffen uns bei Bedarf die nötige gewünschte Distanz.
Im Wohnbereich
- Grundrisse mit Nischen, Treffpunkten, Aussichtpunkten etc.
- Kleinwohnungen mit Gemeinschaftszonen: Eingangsbereich als Lounge, Gemeinschaftsraum mit Küche, gemeinsame Waschküche, halbprivate Dachterrasse
An Fassaden
- In die Tiefe gestufte Fassaden
- Vorsprünge und Einzüge, Balkone und Loggias
- Storen und andere variable Sichtblenden
- Balkone und Terrassen mit Bepflanzung als Sichtschutz
Im Aussenraum
- Kammerung mit Hecken, Wällen, Gewässern und Terrassierung des Geländes
- Zonen mit privilegiertem Zugang für Bewohner, nicht öffentlich
- Kleine Gärten für privaten Anbau
Im Stadtraum
- Strassenzüge, Gassen und Quartiere, in welchen Privatsphäre, Arbeitsort und öffentlicher Raum fliessend ineinander übergehen; Handwerk und Handel, Wohnen und Soziales vor Ort
- Wohnen im Erdgeschoss, Verkauf aus der eigenen Wohnung, Co-Working beim Nachbarn, Cafés und Wochenmärkte vor der Haustür, Repair- und Upcycling-Services
- Teilweise selbstbestimmt funktionierende Areale mit Kleinhandel, Nachbarschaftshilfe sowie Erziehung und Bildung als Generationenprojekt – aber hier wird’s gesellschaftspolitisch.
Privat und öffentlich zugleich, Verantwortung und Autonomie gleichermassen. Ein frühes Modell war die Freistadt Christiania in Kopenhagen.
Privatheit und Kollektiv, Nähe und Distanz, Enge und Ferne. Bei der Beschäftigung mit diesen Themen stossen wir auf neue Lösungen, die unsere Branche, aus welchen Gründen auch immer, etwas verschlafen hat. Wachen wir auf, werden wir kreativ, entwickeln wir innovative Lösungen. Arbeiten wir interdisziplinär zusammen. Bauen wir Diversität. Nutzen wir Stadtzentren zu Wohnquartieren um. Reden wir über Raummanagement und Entfaltungsräume statt Grundrisse und Quadratmeterpreise. Und veranlassen und begleiten wir das organische Wachsen von neuen Lebensräumen, in den sich die Menschen gut und gerne einrichten, wenn wir sie lassen – vertrauen wir besser ihnen als den überbordenden Regulatorien.